Monat: Oktober 2016

Tanzen auf dem Drahtseil, weil sie den Abgrund liebt:  Doris Gercke hat mit Milena Proháska eine außergewöhnliche Krimifigur geschaffen.

Mit der Gefahr spielen – das ist bei Milena Proháska mehr als wörtlich zu nehmen. Die Protagonistin von Doris Gerckes neuesten Krimis mag es nicht gern kuschelig. Und nimmt dafür in Kauf, dass ihr Leben ein ständiger Drahtseilakt ist.

Kiew – hier ist Milena in ihrem neuesten Fall unterwegs.

Milena Proháska ist eine kluge Frau, die keine Konfrontation scheut. Für ihre Ziele und Werte geht sie aufs Ganze und setzt dabei nicht nur ihren Intellekt, sondern auch ihre weiblichen Vorzüge ein. Sie weiß mit Menschen umzugehen und kann sie mit den richtigen Worten und Handlungen dazu bringen, ihr buchstäblich aus der Hand zu fressen. Aber woher kommt diese Frau, die nicht unbedingt immer Sympathieträgerin ist, doch zugleich auf ihr Umfeld eine faszinierende Anziehungskraft ausübt? Und wer ist sie eigentlich?

Die selbstbewusste Juristin und das Spiel mit dem Feuer

Autorin Doris Gercke, Foto: © Deff Westerkamp

Milena Proháskas Eltern stammen ursprünglich aus Prag, sie sind 1968 aus Tschechien emigriert. Ihre Tochter, eine junge Frau voller Elan, mit wilden, roten Haaren, intelligent und schön wird Rechtsanwältin, besessen davon, die Welt ein wenig besser zu machen. Sie steigt schnell auf in die Riege der Star-Juristen Hamburgs und vertritt selbstbewusst die Interessen ihrer Klienten. Dafür sind ihr viele Mittel recht. In „Milenas Verlangen“, dem ersten Kriminalroman um die schöne Juristin, reist sie dafür sogar an die französische Côte d’Azur. Die Reise entpuppt sich schnell als gefährliche Sackgasse, aus der sich Milena jedoch aufgrund ihrer Gewitztheit gerade noch retten kann. In Hamburg wartet schon der nächste aufsehenerregende Fall, der Milena nicht den Kragen, aber den Kopf kostet. Milena  fordert nämlich nicht nur die Rechte ihrer Mandanten, sondern auch die Erfüllung ihrer eigenen Wünsche – auch erotischer Natur – mit Nachdruck ein. Dabei fällt es ihr immer schwer, Berufliches von Privatem zu trennen, was sie letztlich in „Beringers Auftrag“ um ihre Karriere als Anwältin bringt.

Wo es wehtut. Der neue Kriminalroman rund im Milena Prohaska.

Milena in Kiew – zwischen Nobelbordell und Bundesnachrichtendienst

Milena wäre aber nicht Milena, wenn sie nicht einen Ausweg aus ihrer misslichen Lage fände. Ihr Weg führt sie schließlich nach Kiew, dem Schauplatz des neuesten Krimis „Wo es wehtut“. Dort arbeitet sie für den deutschen Bundesnachrichtendienst. Offiziell betreibt sie ein Nobelbordell, und das aus gutem Grund. Die ranghohen Männer vertrauen ihre Geheimnisse nämlich gern in rührseligen und betrunkenen Momenten ihren Mätressen an. Leichtes Spiel für Milena? Mitnichten. Denn sie wird verdächtigt, auch für Russland zu arbeiten. Als sich im Ukraine-Konflikt die Fronten verhärten, gerät auch Milena immer mehr zwischen die Mühlen …

Doris Gercke wird nicht umsonst als Grande Dame des politischen Krimis bezeichnet. Mit Milena Proháska hat sie eine Figur geschaffen, die psychologischen Tiefgang besitzt und sich geschmeidig wie eine Katze zwischen den politischen Hotspots der Welt bewegt.

Gut gebrüllt, Panther! André Pilz hat einen schonungslosen Kriminalroman geschrieben

André Pilz ist einer, der Randfiguren eine Stimme gibt. Sein neuer Kriminalroman spielt „ganz unten“, nämlich in der Drogendealerszene einer deutschen Großstadt. Tarik, ein sympathischer Underdog und Kleinkrimineller, gerät in Schwierigkeiten, als er sich von der Polizei überreden lässt, in eine vermeintliche Terrorzelle eingeschleust zu werden.

„Heftig, ehrlich und ohne Tabus.”
WDR, Lina Kokaly

„hoch engagiert, voller Kraft und Leidenschaft”
WDR, Ulrich Noller

„Bei aller Härte und Spannung gelingt André Pilz in ‚Der anatolische Panther‘ das sensible Porträt eines türkischstämmigen Outsiders. (…) Zudem erzählt André Pilz respektloser, ja mutiger vom Treiben salafistischer Seelenfänger hierzulande als man es in den üblichen Konvertitengeschichten hausbackener Krimikonfektion bislang gelesen oder gesehen hat.”
Deutschlandfunk, Ralph Gerstenberg

„Der anatolische Panther ist nicht einfach nur ein spannender, authentischer Kriminalroman, dem das seltene Kunststück gelingt, den Finger auf die Stelle zu legen, an der man den Puls der Zeit tatsächlich fühlen kann.”
culturmag.de, Alexander Roth

„In diesem Krimi geht es um mehr, um mögliche Mittel zur Verhinderung von Gewalt.”
Der Freitag, Eva Erdmann

„Andre Pilz versteht es, Figuren zu erschaffen, die leben.”
ORF, Anette Raschner

„ein mit Sympathie für seine Figuren erzählter Kriminalroman, verknüpft mit einer wunderbar altmodischen Liebesgeschichte.”
Die Presse am Sonntag, Peter Huber

Kein Supermann, kein sauberer Held

Tarik ist einer, den man spontan mag, ein kleiner Gangster mit großem Herz. Sein Schöpfer André Pilz beschreibt ihn so: „Tarik kifft gern, trinkt gern, feiert gern, liebt Fußball, Frauen, das ist ein junger Mann wie 1000 andere auch. Tarik hat ein gutes Herz, baut aber verdammt viel Scheiße. Auch das unterscheidet ihn nicht von vielen anderen jungen Männern. Tarik gibt sich tough, hat aber ganz romantische Träume von der großen Liebe, auch sein Mut ist nicht immer gar so übergroß, aber wenn es um die Fixpunkte in seinem Leben geht – die Liebe zu seinem Großvater, seinen Freunden, seiner Freundin und auch Gott, dann wächst er über sich hinaus, dann ist er bereit, alles zu riskieren und zu geben.“

Auf die Frage, warum er seinen Protagonisten im Umfeld von Migration und Zuwanderung angesiedelt hat, berichtet Pilz, es habe ihn gereizt, seine Erfahrungen mit türkischstämmigen Freunden in einen Roman zu packen und auf diese Weise einen Helden zu schaffen, der „ein wenig anders“ ist als die meisten anderen.

Die Idee zu Tarik kam Pilz, weil Schüler sich in Gesprächen immer wieder so begeistert von der Figur Shane in dem Roman „Man Down“ zeigten, der einen ähnlichen Hintergrund hat wie Tarik. So entstand „ein Held oder Antiheld, der auf gewisse Art cool, liebenswert ist, aber auch schlimme Dinge tut.“

Mehr oder weniger unverschuldet ist Tarik nämlich in eine Abwärtsspirale geraten, aus der es scheinbar kein Entkommen gibt. Bei seinem Vorstrafenregister ist es für die Polizei ein Leichtes, ihn zu erpressen, für sie als Spitzel zu arbeiten. Doch damit gerät Tarik in größte Gefahr, denn der „Derwisch“, ein radikaler Prediger, der in Verdacht steht, Kopf einer Terrorzelle zu sein, ist niemand, mit dem man sich anlegen sollte.

Harte Worte für eine harte Realität – erschütternd wie ein Vorschlaghammer

„Die Protagonisten sind nicht im gutbürgerlichen Milieu verortet“, so Pilz, „das sind auch keine Studenten oder Bankangestellten, das würde nicht passen, wenn sie anders sprechen würden, als sie das tun. Ich würde nie behaupten, die Wirklichkeit widerzuspiegeln, aber ich versuche, eine gewisse Problematik auf den Punkt zu bringen mit den Geschichten, die ich erzähle. Mich interessieren ja grundsätzlich fast ausschließlich Kriminalromane mit lebendigen Figuren, deren Geschichten auch ein gewisses Milieu gut darstellen. Alles andere fesselt mich nur selten.“ Und lebendig sind sie, die Figuren im „Anatolischen Panther“, greifbar fast, authentisch, echt.

Und da sie eben keine Bankangestellten sind, sondern Kleinkriminelle, Dealer und Arbeitslose, da sie aus jenen Schichten stammen, die oft nicht gehört werden, leiht André Pilz ihnen seine Stimme.

„Es gibt im deutschsprachigen Raum – so finde ich – viel zu wenig Geschichten, die sich da ‚unten‘ abspielen. Deshalb habe ich ja auch überhaupt angefangen, ernsthaft zu schreiben. Ich hatte das Gefühl, dass diese gefeierten Popliteraten im deutschsprachigen Raum damals – Christian Kracht oder Stuckrad-Barre etwa – nichts mit meinem Leben und vor allem dem Leben meiner Bekannten und Kumpels zu tun hatte. Ich war damals regelmäßig im Stadion, hing mit Leuten ab, die arbeitslos waren oder schon damals zwei bis drei Jobs hatten und doch am Monatsende pleite waren. Die von etwas träumten, von einer Wende im Leben, von der jeder wusste, dass sie nicht kommen würde.

Was hatten die mit Cabriofahren auf Sylt oder Bussi-Bussi hinter der Bühne bei Harald Schmidt zu tun? Nicht falsch verstehen – diese Bücher können auch großartig sein, aber zu jener Zeit wollte ich nur eins: Mit dem Vorschlaghammer diese Popliteratur zerschmettern und was Neues aufbauen.“

Rausch und Wahrheit – Wahn und Sinn

Der Rausch ist ein zentrales Element des „Anatolischen Panthers“. Der Rausch, mit dem Tarik immer wieder seiner Realität entflieht. Der Rausch, der den Leser packt, wenn er atemlos über die Seiten fliegt. Für André Pilz ist auch das Schreiben eine rauschhafte Erfahrung: „Wenn es richtig gut läuft, kann das Schreiben ein Rausch sein, ja. Und es gibt für mich auch nur wenig, das schöner ist, als zu schreiben, bei guter Musik, bei einem guten Kaffee oder Bier, wenn man merkt, die Figuren werden lebendiger, klarer, die Dialoge passen, die Geschichte ist auf einem guten Weg.“

Und rauschhaft ist auch der Wahn, in deren Fahrwasser sich die Anhänger des Derwischs befinden. Deutlich hallen hier aktuelle Nachrichten wieder, Nachrichten von Gewalt, Hass und Terror. Und von ideologischer Verblendung. „Wir leben in einer irren Zeit. Viele Menschen pfeifen auf Fakten, glauben nur das, was sie glauben wollen, was in ihr Weltbild passt, das leider allzu oft schwarz-weiß ist. Ist eine Unwahrheit bewiesen, brüllt man sie noch lauter, irgendwer wird sie schon fressen, und ja, jeder Mist wird heutzutage gefressen, garantiert. Man darf sich deshalb auch nicht wundern, dass auf Basis von Verschwörungstheorien und Schwurbeleien, von Schwarz-Weiß-Bildern und simplen Gut-Böse-Mustern es Hassprediger so leicht haben, und ich meine damit nicht nur die islamistischen.“

 

 

Ein brisanter Kriminalroman ist es, den André Pilz vorlegt, emotional, fesselnd und direkt am Puls der Zeit. Das literarische Ausnahmetalent nimmt dich mit auf eine atemlose Verfolgungsjagd und in den Kampf eines Kleinkriminellen um seine eigene Zukunft.

Alle Infos zum Buch gibt es hier.

Leseprobe: „Der König der Schweine” von Manfred Rebhandl

Kitty Muhr wiegt ein bisschen mehr als ein durchschnittliches Magermodel, und sie ist auch sonst aus gröberem Holz geschnitzt. Sie raucht und trinkt und flucht, und sie mag Kerle. Richtige Kerle. Solche mit Haaren und keine Sackrasierer.
Mit ihrer Polizeikarriere geht anfangs ebenso wenig weiter wie mit der lange ersehnten großen Liebe. Barkeeper Johnny aus der Bingobongobar, wo sie nahezu ihre gesamte Freizeit verbringt, ist es jedenfalls nicht. Dabei ist er groß, stark behaart und extrem männlich.

Manfred Rebhandl, Foto: Kurt Michael Westermann

Ja, Kitty hat es nicht leicht als einzige Frau in ihrer Abteilung und mit einem zerknitterten Boss („sein Gesicht? Jemand musste einer alten Elefantenkuh den Arsch abgezogen und ihm dort hingeklebt haben”) mit dem Wesen eines grummeligen, schlecht gelaunten, stark behaarten Arschlochs.

Doch die unerschütterliche Ermittlerin weiß sich zu helfen, mit ungebrochenem Selbstvertrauen sagt sie Rauchverboten, Dresscodes und verschlossenen Türen den Kampf an – auch in ihrem aktuellen Fall:

„Der König der Schweine”

Ich war Bulle bei der Wiener Kriminalpolizei, Abteilung Gewaltverbrechen inklusive Mord. Wir waren zuständig für den Westen, und unsere Abteilung war im fünften und letzten Stock eines desolaten Gebäudes in der Tannengasse hinter dem Westbahnhof untergebracht, zusammen mit dem Meldeamt, dem Passamt und dem Amt zur Ausstellung von Führungszeugnissen. Ein Gemischtwarenladen der Verwaltung also, und mittendrin wir.

Die meiste Zeit saß ich hier einfach nur meine Dienste ab: dreimal Nacht, zweimal frei, dreimal Tag, zweimal frei. Und so weiter. Aber besonders die Nachtdienste setzten mir immer mehr zu, weil ich dabei völlig außer Tritt kam. Es ruinierte meine Verdauung, wenn ich so unregelmäßig arbeitete und wenig schlief. Und wenn ich nicht arbeitete, dann schlief ich eben auch nicht, sondern lag wach herum und machte mir so ein paar Gedanken darüber, warum ich so oft alleine schlief. Oder ich saß bei Johnny in der Bingobongobar auf einem Hocker, hielt mich an einem Glas fest und starrte ins Leere, bis ich pinkeln musste. Hinten raus aber ging bei mir am Klo oft tagelang gar nichts mehr, obwohl ich wirklich nicht zu wenig aß. Vielleicht sollte ich auch einfach etwas anderes essen, und nicht immer nur dieses fettige und süße Zeug zwischendurch, das ich, je länger ich hier arbeitete, desto dringender benötigte. Es war nämlich das Einzige, was mich hier irgendwie glücklich machte.
Klar, hin und wieder hatte ich auch was zu tun. Dann kriegte ich einen Fall auf den Tisch, so wie die Aushilfskraft in der Küche, die Kartoffeln zum Schälen kriegt, oder die Zahnarzthelferin, die den Schlauch fürs Absaugen halten darf. Bei mir war es meistens ein betrunkener Pole oder so was in der Art, der von seinen saufenden Kumpanen im Park abgestochen worden war, und ich sollte dann herausfinden, wer es getan hatte und warum. Als wollte man mir damit sagen: Wenn du es schaffst, diesen Fall zu lösen, dann hast du schon sehr viel geschafft, Kitty!

Die Typen hier hatten irgendwie ein Problem mit mir, und ich mit ihnen.

Ich musste zur Lösung solcher Fälle nur die Überwachungskameras öffentlicher Plätze auswerten, ein paar Zeugenaussagen einholen und in Notquartieren nachfragen, ob dort einer fehlte. Und dann organisierte ich meistens noch die Beerdigung am Friedhof der Namenlosen, ich ertrug es nämlich irgendwie nicht, wenn sich niemand um die Toten kümmerte. Ich war ja nahe am Wasser gebaut, obwohl ich Judo konnte. Judo, nicht Yoga. Ich fragte mich oft: Was ist denn das für eine Welt? Du lebst, du stirbst, und dann vermisst dich niemand? Kein Papa, keine Mama, keine gesamte Verwandtschaft? Wo sind denn all die Freunde hin, die doch nach einem fragen müssten? Überall liegen sie herum, die keiner mehr haben will, mit denen niemand mehr etwas zu tun haben möchte, um die sich keiner mehr kümmert. Kommt ja immer häufiger vor! Einer weniger von denen? Ist doch scheißegal. Hundert weniger? Noch besser!

So dachten und redeten jedenfalls meine Kollegen, die allesamt Männer waren und mit denen ich die ganze Zeit zu tun hatte. Und wenn ich so einen Fall dann zu den Akten legte, hörte ich sie auf den Gängen über mich reden: „Das hat sie gut gemacht, die Muhr! Wirklich sehr gut!“ Als hätte ich mir das erste Mal die Schuhe richtig zugebunden. Und als würde ich dafür Lob verdienen!

Daran war ich natürlich selbst schuld. Ich wollte ja unbedingt einen Job haben, in dem ich mit Kerlen arbeiten konnte, denn ich mochte Kerle. Ich mochte richtige Kerle wie Johnny aus der Bingobongobar, oder welche, die tagsüber Straßen asphaltierten und nachts schwere Autos fuhren. Solche mit Haaren auf der Brust und keine Sackrasierer. Aber am Bau wollte man mich nicht haben, und zum Asphaltieren hatte ich keine rechte Lust. Also blieb mir am Ende nur die Polizei, Abteilung Gewaltverbrechen inklusive Mord. Wie aber hatte ich jemals glauben können, dass mir das Spaß machen würde

Schnell wurde mir nämlich klar, dass es bei den Bullen keine richtigen Kerle gab, sondern nur Typen mit echten Problemen. Oder mit schweren Defiziten, wie man heute auch sagt, wenn einer mit sich und der Welt überhaupt nicht mehr zurechtkommt. Die meisten Bullen fingen irgendwann an zu trinken, nahmen Tabletten oder irgendwelche anderen Drogen und starben mit neunundfünfzig, knapp bevor sie in Pension gehen konnten. Sie flüchteten sich vor ihren Problemen in eine Bar, setzten sich auf ihren Hocker und bestellten ein Glas, an dem sie sich festhielten, und dann starrten sie ins Leere, bis sie pinkeln mussten. Dabei dachten sie, sie wären so was Ähnliches wie Superman, hatten aber in Wahrheit Angst vor allem, was auf zwei Beinen herumlief, und am meisten natürlich vor Frauen. Männliche Bullen hielten einfach nichts von Frauen in ihren Reihen, aber noch weniger hielten sie von Ausländern, die sie verallgemeinernd Kameltreiber oder Kümmeltürken nannten. Oder eben Bimbos, wenn sie halt ganz schwarz waren.

So wie der, wegen dem mein Boss vorhin rausgegangen war: „Hier hängt einer im Wald!“, hieß es. „Ein junger Schwarzer! Er ist tot!“ Das war der Inhalt eines aufgeregten Anrufs, der mich vor einer Stunde erreichte. Es waren Wanderer, die den Toten entdeckt hatten, eine so genannte Jungfamilie in einem Naherholungsgebiet westlich der Stadt. Die Überraschung war groß bei den süßen Kleinen, denn einen Schwarzen hatten sie zuvor vielleicht noch nicht so oft gesehen in ihrem Leben, und ein Schwarzer hing in dieser Gegend schon gar nicht so oft im Wald herum. Wobei die Frage war, was sie mit „hängen“ meinten.

Die vielleicht wichtigere Frage aber war: Ein toter Schwarzer? In einem Wald westlich der Stadt? Das hatten wir letzte Woche schon mal, und ich musste den Bericht tippen: Arbeiter hatten die Leiche da draußen im Auffangbecken eines kleinen Wasserkraftwerks mit einer vielleicht zehn Meter hohen Mauer gefunden. Jemand hatte das Opfer mit Klebeband an einem Mountainbike festgebunden, an Armen und Beinen, und dann über die Böschung hinunter ins Wasser gestoßen. So ungefähr
musste es sich zugetragen haben. Der toxikologische Befund hatte ergeben, dass der Tote voll mit Amphetaminen war. Seine Leiche war grotesk aufgeschwemmt nach den vielen Tagen, die er da unten im Wasser getrieben war, und seine schwarze Haut war beinahe vollkommen bleich. An seinen Fingerkuppen befand sich praktisch keine Haut mehr, weil sie ihm die Fische abgefressen hatten. Und als man seine Hände vom Bike löste, fand man in der rechten ein kleines Schweinchen, so eines, wie man es zu Silvester verschenkt. Jemand hatte es ihm da reingetan, bevor er ihm die Hand am Lenker festgebunden hatte. Es war klar, dass man es finden sollte, weil es wohl eine Art Botschaft war. Aber welche?

Ich war nicht der Typ, der gerne in den Wald ging, also informierte ich meinen Boss, der schon den ersten Fall übernommen hatte. Sagte ihm, dass ich ein kleines Mädchen sei und er ein großer, starker Mann, und der Wald etwas für ihn und nicht für mich. Ich wollte nämlich lieber hier bleiben und weiter im Internet surfen (Kategorie „Autsch!“), mir die Nägel feilen und mit Susi telefonieren. Ein bisschen Nägel feilen, ein bisschen surfen, dazu rauchen und Kaffee trinken und, wenn es sich ergab, mit meiner Freundin Susi telefonieren – das stand bei mir auf dem Programm, wenn hier gar nichts los war. Das Feilen der Nägel beruhigte meinen Geist, während das Surfen mich in Stimmung brachte und Susi mich auf dem Laufenden hielt. So wie heute Morgen, als sie mir sagte, dass der eine Sternekoch immer in das Essen der zwei schwulen Schauspieler spuckte, bevor er es ihnen servieren ließ, weil er Schwule angeblich nicht leiden konnte. Angeblich! Das war das Wichtigste überhaupt gewesen, wegen dem sie mich angerufen hatte.

Nun rief Bonner aus dem Wald heraus an, von dort, wo man die Leiche gefunden hatte. Der Empfang war schlecht, aber noch schlechter war seine Laune. Mein Boss war nämlich irgendwie auch nicht der Wald-Typ, wie sich herausstellte, dort kannte er sich nicht aus, und es gab dort keine Bar, wo er sich hinsetzen und ins Leere starren konnte, bis er pinkeln musste. Und immer, wenn er sich irgendwo nicht auskannte, rief er mich an, das war so eine Angewohnheit von ihm. Außerdem war er einsam, das kam erschwerend hinzu, und er hatte wohl so ein Gefühl, dass ich es auch war. So falsch lag er damit gar nicht. Aber wie immer, wenn zwei miteinander reden wollten, die einsam waren, musste erst einer das Gespräch in Gang bringen, sonst klappte das nicht. Ich fragte: „Was ist, Boss? Geht’s Ihnen grad nicht gut?“

„Sei froh, dass du nicht sehen musst, was ich gerade sehe!“

Dass er alle mit Du anredete, die ihn umgekehrt mit Sie anreden mussten, das hatte er sich angewöhnt, als die Zeiten für ihn noch besser waren und seine Glocken noch etwas höher hingen.

„Der hängt da verkehrt herum an einer Leine“, sagte er, und ich fragte: „Wie? An einer Leine?“

„Die Leine ist zwischen zwei Bäumen im Abstand von vielleicht zehn Metern gespannt. Über einer Senke, die vielleicht drei Meter tief ist. Hast du das ungefähr vor Augen?“

„Ja, ich denke schon.“

„Dann sag mir, wie man das nennt, was diese jungen Leute heute in den Parks oft machen, wenn sie auf so einer Leine herumbalancieren?“

Ich schloss mein „Autsch!“-Fenster, zog den Stick heraus und sagte: „Slackline?“

Er sagte: „Sicher? Na okay, dann halt Slackline.“

Ich hatte so etwas schon mal im Fernsehen gesehen, denn nachts, wenn ich nicht schlafen konnte – und ich konnte selten schlafen –, schaute ich mir solche Filme an: über Segelboote, die um die Erde segelten; oder über Fallschirmspringer, die von oben herabsprangen; oder eben über solche Typen, die ihre Leine zwischen zwei Hochhäuser oder zwei hohe Felsen spannten und dann da drauf herumbalancierten, über Abgründen, die hunderte Meter tief waren, und so locker, als gingen sie darauf spazieren. Das waren schon die irrsten Typen! Manche machten es mit einem Sicherungsseil um den Knöchel, manche gingen aber auch ohne. Sie brauchten irgendwie diesen Kick, vielleicht, um dann besser schlafen zu können. Mit gutem Sex alleine schoss man sich heute nirgendwo mehr hin. Ich sagte: „Aber hören Sie, Boss: Diese Leinen sind im Park immer nur einen Meter oder so über dem Boden gespannt. Sie aber sagten, da geht es in eine Senke hinunter?“

„Ja.“

„Und darüber ist die Leine gespannt?“

„Ja. Er baumelt hier ziemlich genau in der Mitte der Senke an dieser Leine, bis dahin muss er balanciert sein. Um seinen rechten Fuß ist eine Sicherungsleine befestigt, die mit einem Karabiner an dieser Slackline geführt wird. Seine Arme hängen einen halben Meter über Grund. Jemand muss ihm gegen den Kopf geschlagen haben. Kennst du diese Geburtstagsfeiern, wo Kinder gegen Säcke schlagen, aus denen dann Süßigkeiten herausfallen?“

„Ja. Wo ist es?“

Er seufzte tief und resigniert, bevor er antwortete: „In der Nähe des Kraftwerks.“

Ich fragte: „Dann ist es eine Serie?“

Er sagte: „Ich bitte dich!“

„Wie lange hängt er dort schon, was meinen Sie?“

„Sicher ein paar Tage. Ich wünschte, es war ein Unfall.“

Ich lachte: „Im Ernst, Boss? Lassen Sie mich überlegen. Ein Schwarzer im österreichischen Bundesforst alleine mit einer Slackline? Ist es irgendjemandem aufgefallen, dass das schwarze Jugendliche in jüngster Zeit öfter machen? Sich ein einsames Plätzchen suchen und dort herumbalancieren? Und sich dann selbst den Schädel blutig schlagen, sobald sie das Gleichgewicht verloren haben? Oder sich an Mountainbikes festbinden und dann in einen See hineinfahren?“

„Warum nicht?“, sagte Bonner gereizt, bevor er wieder auf sein Lieblingsthema zu sprechen kam: „Sie sind doch mittlerweile überall!“

Schwarze. Bimbos. Neger. Es gab wenig, was Bullen mehr aufregte als diese Gruppe von Menschen, von denen sie sich einbildeten, dass sie immer mehr wurden. Dass sie uns überschwemmen würden. Dass wir wegen ihnen bald nicht mehr Herr  im eigenen Land sein würden. Wahrscheinlich schauten sich Bullen im Internet diese einschlägigen Seiten an, die auch ich mir gespeichert hatte: monstercocks.com oder bigblackcocks.com. Anders konnte ich mir nicht erklären, warum sie solche Angst vor ihnen hatten und sich ihnen so dermaßen unterlegen fühlten.

„Moment“, sagte Bonner. „Da klebt ein Fünfzig-Euro-Schein an dieser Leine.“ Er atmete schwer, und ich konnte hören, wie er im Gras herumging. Wie er sich dabei eine Zigarette anzündete. Und wie er einen Schluck aus seinem Flachmann nahm. Dann sagte er: „Und hier klebt wieder so ein Schweinchen! Was soll der Scheiß überhaupt?“

Er legte auf.

Manfred Rebhandl: Der König der Schweine

 

Wir können uns Krimi-Star Thomas Raab nur anschließen, wenn er sagt:

»Manfred Rebhandl rockt. Im Grunde kenn ich keinen, der so unverblümt schreibt, ehrlich, mutig, grad raus – und irrsinnig komisch! Rebhandl war für mich schon Kult, da hab ich noch gar nicht selber ans Schreiben gedacht, und ich kann nur sagen: LESEN!«

⇒ Und zwar am besten gleich hier.

 

Anständig unanständig, enorm komisch und alles andere als politisch korrekt – wenn Kitty Muhr ermittelt, geht es nicht zimperlich zu! Wenn die unerschütterliche Amy Shumer der Kripo Wien die Bühne betritt, heißt es Köpfe einziehen und unauffällig abtreten. Denn diese Frau kann Judo! Judo, nicht Yoga!

Die Welt ruft! Kateryna Babkinas Romandebüt entführt uns auf eine Reise voller Überraschungen quer durch Europa

„Heute fahre ich nach Morgen“: Hunger nach Leben und Antworten ist der Motor, der die bezaubernde Protagonistin des ukrainischen Jungtalents Kateryna Babkina auf ihrer sinnlichen Fahrt ins Unbekannte antreibt. Wir dürfen sie dabei auf dem Rücksitz eines alten Lada begleiten

Die selbstbewusste und abenteuerlustige Künstlerin Sonja genießt ihr Leben in vollen Zügen: Sie ist jung, kreativ und darüber hinaus auch noch wunderhübsch. Sonja saugt alles, was ihr unbeschwertes Leben ihr beschert, in sich auf. Sie tanzt viel, träumt viel, verliebt sich gerne, malt gerne. Ganz ungezwungen, ganz ohne Gedanken an morgen. Warum auch? Schließlich bringt jeder Tag ohnehin etwas Neues, aber doch nichts Aufreibendes, über das man sich große Gedanken machen müsste. Dazu noch eine Liebesgeschichte mit dem aufregenden Luis. Beziehungsstatus? Unbekannt. Aber wieso sich festlegen, wenn es auch so schön und viel unkomplizierter ist.

So könnte es ewig weitergehen, ewig dahinfließen wie die langsam vergehenden und heißen ukrainischen Sommertage … Doch inmitten der leichtfüßigen Idylle nimmt die Sorglosigkeit ein abruptes Ende: Über Nacht wird sie von Luis verlassen. Dann eine Party. Eine Nacht mit einem Unbekannten. Und schließlich die Gewissheit: Sie ist schwanger

Ein Kofferraum voller Fragen, Abenteuerlust und Poesie

Kateryna Babkina, eines der jüngsten, vielseitigsten und vielversprechendsten Talente der Ukraine. Foto: Alina Kondratenko

Das ist der Ausgangspunkt dieser mitreißenden Geschichte, mit der nun erstmals eine deutsche Übersetzung des Romandebüts von Kateryina Babkina vorliegt. Die Autorin, Dichterin und Drehbuchautorin ist eine der jüngsten, vielseitigsten und vielversprechendsten Talente der Ukraine. Selbst vom Lebensgefühl der Generation Y geprägt, kennt sie die Fragen, die sich einer Generation stellen, der zwar alle Türen offenstehen, die aber nicht weiß, was sich in der Welt und Zukunft dahinter verbirgt, nur zu gut. Feinfühlig gelingt ihr die Schilderung der Sinnsuche ihrer Romanheldin von „Heute fahre ich nach Morgen“, auf die sich diese nach dem ersten Schock der Ereignisse einlässt.

Sonja war von der Schwangerschaft derart geschockt, dass sie lange in den hintersten Ecken ihres Inneren kramte, trockene Erinnerungen und feuchte Gefühle, winzige Splitter kleinster Dinge und das leise Stöhnen fremder Geheimnisse durchforstete und trotzdem nicht wusste, wie sie das bewerten sollte, was da gerade mit ihr passierte.

Von der ungeplanten Schwangerschaft überrumpelt, wird Sonja mit ganz neuen Fragen konfrontiert, die sie dazu bringen, sich mit ihren Wurzeln auseinanderzusetzen: Wo will ich hin? Was will ich mit meinem Leben anfangen? Wie bringe ich mich selbst in Einklang mit dem, was da gerade in meinem Bauch heranwächst? Woher komme ich selbst? Und wo zum Teufel steckt eigentlich mein Vater? Angeregt durch ihre Schwangerschaft, will sie den ihr bisher unbekannten Vater endlich finden. Vielleicht wird ihr dann klar, was „Blutsbande“ zwischen Eltern und ihren Kinder sind?

Die ungewohnte Situation ist für Sonja ein grober Einschnitt, aber auch eine neue Perspektive: Die Vergangenheit lässt sich erkunden, aber das alte Leben nicht mehr herstellen. Dafür eröffnen sich ihr bisher unbekannte Wege und Horizonte. Mutig beschließt sie, endlich ins Morgen zu starten.

Von fliegenden Elchen und schlafenden Drachen – die fabelhafte Welt der Sonja

Eine traumhafte Reise: Heute fahre ich nach Morgen

Lebendig und beschwingt erzählt Kateryna Babkina von der Gefühlswelt einer jungen, modernen Frau und würzt ihren Text mit fantastischen Elementen. Auf ihrer Reise begegnen Sonja skurrile Gesichter mit noch skurrileren Geschichten. Da ist zum Beispiel der kleine Besnyk, der zusammen mit seiner Familie in einer versteckten Hochhaussiedlung im Wald vor Sonjas Heimatstadt lebt. Oder das homosexuelle Pärchen Po und Pu, das sie noch aus Schultagen kennt. Und dann erst der geheimnisvolle Kai, der mit seiner ungewöhnlichen Geschäftsidee, Wunder zu verkaufen, durch Europa zieht. Sonjas Reise ist abenteuerlich, traumhaft und erfrischend verrückt!

Kateryna Babkina schafft es, in ihrem Roman die ernsten Lebensfragen einer ganzen Generation zu stellen, auf ungezwungene, humorvolle und poetische Art. Und auf eine ziemlich spritzige noch dazu, denn Sonja macht sich hinter dem Steuer ihres alten Lada auf die Reise. Eine Reise als Selbstfindung, zum Sortieren des eigenen Lebens, der eigenen Ängste, Sehnsüchte, Wünsche und Ziele. Aus der Ukraine nach Polen, von Krakau nach Katowice, in die pulsierende Metropole Berlin, von dort aus nach – aber halt, zu viel wollen wir nicht verraten!

Folge Sonja auf ihrer Reise quer durch Europa und genieße diesen engen Tanz von Poesie und Prosa.

Du interessierst dich besonders für Literatur aus der Ukraine?
Dann bist du bei uns an der richtigen Adresse! Neben Kateryna Babkina haben wir in Zusammenarbeit mit unseren Übersetzer*innen auch andere wundervolle ukrainische Stimmen ins Deutsche gezaubert: Andrej KurkowSerhij ZhadanMaria MatiosOleksij TschupaNatalka Sniadanko, Jurij Wynnytschuk und Oleksandr Irwanez erzählen in ihren Büchern von der Buntheit eines Landes, seiner Bewohner*innen von heute und damals, von seiner Geschichte und dem Hauch Zukunft und Widerstandsgeist, der die literarischen Werke immer umweht. Viel Spaß beim Entdecken!